Menschenrechte für Flüchtlinge und
Vertriebene
Aboalghasem Mohammadi
Asylrecht
Jeder Mensch hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl
zu suchen und zu genießen. So jedenfalls will es Artikel 14 der
Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948. Trotzdem besitzen
politisch Verfolgte nach dem Völkerrecht keinen individuellen Anspruch
auf Asyl. Die Gewährung oder Ablehnung von Asyl gehört vielmehr zu den
Rechten eines souveränen Staates. Daran ändert auch das Genfer Abkommen
über die Rechtsstellung der Flüchtlinge von 1951 nichts, in der
lediglich die rechtliche Absicherung des einmal gewährten Asyls geregelt
ist.
Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ging über die Regeln
des Völkerrechts weit hinaus und räumte politisch Verfolgten ein
subjektives Recht auf Asyl ein. Artikel 16 Absatz 2 Satz 2 bestimmte:
"Politisch Verfolgte genießen Asylrecht." Bei der Formulierung dieses
Grundrechtes standen die Mütter und Väter des Grundgesetzes unter dem
Eindruck des enormen Flüchtlingselends nach dem Zweiten Weltkrieg und
der Tatsache, dass viele politisch Verfolgte während des Dritten Reiches
ihr Leben nur dadurch retten konnten, dass sie von anderen Ländern
aufgenommen wurden. Als unverzichtbaren Kerngehalt des Asylrechts sah
man an, dass Schutzsuchende an der Staatsgrenze nicht zurückgewiesen und
nicht in einen möglichen Verfolgerstaat oder einen Staat, in dem die
Gefahr der weiteren Abschiebung in einen Verfolgerstaat besteht,
abgeschoben werden dürfen.
Solange die Zahl der Asylsuchenden relativ gering war, blieb das
Grundrecht auf Asyl unumstritten. Seit den siebziger Jahren traten
jedoch zunehmend Probleme auf:
Während andere europäische Staaten Aufnahmequoten für Asylsuchende
festsetzten und überwiegend nach nationalem Interesse entschieden, blieb
es in der Bundesrepublik Deutschland Behörden und Gerichten überlassen,
herauszufinden, wer wirklich politisch verfolgt worden ist oder wer aus
wirtschaftlichen Gründen um Asyl bittet. Die Zunahme kriegs- und
bürgerkriegsähnlicher Zustände in verschiedenen Teilen der Welt ließ den
Strom der Flüchtlinge in die Bundesrepublik Deutschland seit Mitte der
siebziger Jahre erheblich anschwellen. Trotz erster einschränkender
Maßnahmen in den achtziger Jahren stieg die Zahl der Asylbewerber mehr
oder weniger kontinuierlich auf die Rekordmarke von fast 440000 Personen
im Jahr 1992.
Stammten die Flüchtlinge in den fünfziger und sechziger Jahren
überwiegend aus kommunis-tischen Ländern Europas, kamen die meisten in
den achtziger und neunziger Jahren aus Staaten der Dritten Welt, vor
allem aus der Türkei, aus dem Irak und Iran, aus Afghanistan, Pakistan,
Sri Lanka und Teilen Schwarzafrikas. Ihre Integrations-fähigkeit ist
aufgrund der kulturellen und ethnischen Unterschiede häufig geringer.
Abgenommen haben Toleranz und Aufnahme-bereitschaft in der deutschen
Bevölkerung. In breiten Schichten überwiegen die Furcht vor einem
Ansteigen der Kriminalität sowie die Vorstellung von einer unnötigen
Belastung der öffentlichen Kassen. Durch eine Änderung des Artikels 16
des Grundgesetzes versuchte die Bundestagsmehrheit deshalb 1993, den
Zustrom von Asylbewerbern nach Deutschland nachhaltig einzudämmen. Nach
dem neuen Artikel 16a genießen politisch Verfolgte zwar weiterhin Asyl,
allerdings kann sich nicht mehr auf den Schutzbereich dieses
Grundrechtes berufen, wer aus einem sogenannten "sicheren Drittstaat"
einreist. Dazu zählen neben den Staaten der Europäischen Union alle
Länder, die die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 anerkennen, da
davon ausgegangen wird, daß Asylsuchende bereits dort Sicherheit finden
können. Asylgewährung in Deutschland hängt somit weniger von tatsächlich
erlittener Verfolgung als von der Wahl des Fluchtweges ab.Im Zuge dieser
Politik wurde auch die sozialrechtliche Stellung von Asylbewerbern
mehrfach eingeschränkt. Während das Anerkennungsverfahren läuft, dürfen
Asylbewerber die Gemeinde oder den Landkreis, denen sie zugewiesen
wurden, in der Regel nicht verlassen. Wenn ihnen behördlicherseits eine
"Arbeitsgelege-nheit" angeboten wird, müssen sie diese annehmen und
erhalten dafür pro Stunde lediglich eine "Aufwandsen-tschädigung" von
zwei DM. Soweit Arbeitseinkommen und privates Vermögen zur Bestreitung
des Lebens-unterhaltes nicht reichen, bekommen Asylbewerber eine
Unterstützung, die deutlich unter der Sozialhilfe liegt und vielfach aus
Sachleistungen besteht.
Asylrechtsänderung
Politisch Verfolgte genießen Asylrecht. Dieses
Grundrecht für ausländische Flüchtlinge gilt fort. Es gewährt demjenigen
Schutz, der - um es mit den Worten einer früheren Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts zu sagen - bei Rückkehr in seinen Heimatstaat
aus politischen Gründen Verfolgungsmaßnahmen für Leib und Leben bzw.
Beeinträchtigungen seiner persönlichen Freiheit zu erwarten hat und
dessen Lage so aussichtslos ist, daß er nirgendwo in seinem Heimatstaat
frei von staatlicher politischer Verfolgung leben kann.Diese Definition
zum Umfang des Asylrechts wird von vielen Kritikern nur allzu oft
ignoriert. Sie galt aber bereits vor dem Asylkompromiss und entspricht
der Rechtspraxis aller asylgewährenden Staaten. Deutsch-land ist
allerdings das einzige Land der Erde, das jeden einzelnen Asylantrag
unter Würdigung des individuellen Verfolgungsschicksals prüft.
[...] Das Asylrecht gibt aber nirgends auf der Welt einen Anspruch,
sich den Staat seiner Wahl als Zufluchtsort auszusuchen. Deshalb: Wer
aus einem sicheren Drittstaat einreist, bedarf nicht mehr des Schutzes
in Deutschland, ebenso wenig wer aus einem sicheren Herkunftsland kommt.
Für ihn gibt es kein Bleiberecht bei uns. Das Streben nach besseren
(wirtschaftlichen) Lebensbedin-gungen kann, so verständlich es sein mag,
nicht berücksichtigt werden.
An unserer großzügigen Hilfe für tatsächlich Verfolgte hat der
Asylkompromiss nicht gerührt. Das belegen nüchterne Zahlen. Wurden
1992/93 25585 Personen vom Bundesamt für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge (BAFI) als asylberechtigt anerkannt, so waren es 1994/95
43676 Personen. Weiterhin entfallen knapp die Hälfte aller Asylanträge
in Westeuropa auf Deutschland. Wir haben darüber hinaus mit ca. 350000
Bürgerkriegsflüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien fast ebenso
viele aufgenommen wie alle anderen Länder zusammen. Insgesamt hielten
sich Ende 1995 ca. 1,6 Millionen (!) ausländische Flüchtlinge in
Deutschland auf. Die Aufwendungen allein für Asylbewerber und
Bürgerkriegsflüchtlinge überstiegen auch 1995 wieder deutlich die 10000
Millionen-Dom-Grenze
Ist es angesichts dieser Fakten noch angebracht, von einem
"Leerlauf des Asylrechts" und von "Inhumanität" zu sprechen? Alle
Forderungen nach einem "flexibleren und humaneren" Asylrecht sind im
Übrigen bislang die Antwort schuldig geblieben, wie dies aussehen und
bezahlt werden soll. Wie müssten die Zahlen lauten, um die Kritiker
zufrieden zu stellen? Welche zusätzlichen Einschnitte ins soziale Netz
würden hingenommen? [...]
Günter Beckstein, "Nach den Asylrechtsents-cheidungen des
Bundesverfassungsgerichts", in: Evangelische Verantwortung 9/96, S. 1
f.Wenn heute ein junger Mann aus dem Irak über den Landweg nach
Deutschland kommt und hier um politisches Asyl nach Artikel 16 des
Grundgesetzes bittet, wird er es nicht bekommen. Hätte der Iraki [...]
sein Asylbegehren fünf Jahre früher vorgebracht, dann wäre er heute in
Deutschland als politisch Verfolgter voll anerkannt und, viel wichtiger,
vor einer Abschiebung in sein Heimatland vollkommen sicher. Denn bis zum
30. Juni 1993, dem Tag, bevor die Grundgesetzän-derung zum Asylrecht in
Kraft trat, galt für alle Menschen, die in die Bundesrepublik kamen, der
Satz: "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht".Seit dem 1. Juli 1993 ist
dies anders. [...] Seitdem ist es für Asylsuchende schwer geworden. Denn
das Grundrecht auf Asyl ist seither nur noch eingeschränkt gültig. "Oft
wird gar nicht mehr geprüft, ob jemand politisch verfolgt wird", sagt
Anni Kammerlander vom Münchner Beratungs- und
Behandlungsze-ntrum für Flüchtlinge und Folteropfer Refugio. "Inzwischen
wird der Flüchtling überwiegend danach gefragt: Wie bist du nach
Deutschland gekommen?"Das immense Interesse der Beamten an den
Fluchtwegen der Menschen hat einen einfachen Grund: die
Drittstaatenregelung. Sie ermöglicht es der Bundesrepublik seit der
Reform, Flüchtlingen, die über ein Nachbarland oder über ein anderes
EU-Land eingereist sind, einen Antrag auf Asyl schlichtweg zu
verweigern. Zwar ist diese Regelung nur eine von mehreren
Einschränkungen im Asylrecht - auch Flüchtlinge aus einem als
verfolgungsfrei eingestuften Herkunftsland erhalten kein Asyl - aber
rein zahlenmäßig trifft die Drittstaatenklausel die meisten
Flüchtlinge: Mehr als 90 Prozent der 1992 anerkannten Asylbewerber kamen
über sogenannte sichere Drittstaaten nach Deutschland. [...]Enorme
Bedeutung hat seit der Asylrechtsände-rung auch die Prüfung der
Identität bekommen. Unterstellt wird dabei, der Flüchtling habe ein
falsches Heimatland angegeben, um nicht als jemand identifiziert zu
werden, der aus einem sicheren Herkunftsland kommt, in das er umgehend
zurückgeschoben werden könnte. [...] "Wenn sich da jemand in
Widersprüche verstrickt, dann ist das Asylverfahren eigentlich
gelaufen", weiß die Refugio - Mitarbeiterin.Eines hat man mit dem neuen
Asylrecht erreicht: Es kommen weniger Flüchtlinge nach Deutschland.
Suchten 1992 noch fast eine halbe Million Menschen hierzulande Asyl,
waren es im vergangenen Jahr nur noch knapp über 100000. Und die Zahl
der Abgeschobenen steigt. Allein 1997 wurden 38000 Menschen in ihre
Heimat zurückgeschickt. [...]Berit Schmiedendorf, "Wie bist du nach
Deutschland gekommen?", in: Süddeutsche Zeitung vom 26. Mai 1998.Pro
und kontra Asylrecht Die Handhabung des Asylrechts gehört trotz der
im Bundestag beschlossenen Grundgesetzän-derung und eines bestätigenden
Urteils des Bundesverfassungs-gerichts von 1996 immer noch zu den
umstrittenen Themen der Innenpolitik in Deutschland: Die Befürworter
restriktiver Maßnahmen weisen immer noch auf eine vermeintlich große
Zahl von "Scheinasylanten" hin. Der relative Wohlstand in der
Bundesrepublik Deutschland locke viele Personen an, die nicht politisch
verfolgt würden. Selbst wenn ihr Asylantrag am Ende als offensichtlich
unbegründet abgelehnt werde, hätten sie bei allzu liberaler Auslegung
des Asylrechts Zeit, das nötige Startkapital für eine Existenzgründung
in der Heimat oder einem anderen Land zu verdienen. Der deutschen
Bevölkerung gingen dabei zahlreiche Arbeitsplätze verloren, weil die
"Wirtschaftsflüchtlinge" auch zu ungünstigeren Bedingungen Arbeit
annähmen. Schlimmer sei jedoch die Tatsache, dass durch die Ausländer
die öffentliche Sicherheit zunehmend gefährdet werde. Opfer seien aber
auch in vielen Fällen die Asylsuchenden selbst. Professionell arbeitende
Schlepperorganisationen schleusten gegen Wucherpreise Ausländer in die
Bundesrepublik Deutschland ein und brächten sie häufig um ihr ganzes
Vermögen. Von solchen Menschenhändlern betrogen, bliebe manchen von
ihnen nur noch der Weg in die illegale Prostitution und in die
Kriminalität. Die Verfechter eines liberaleren Asylrechts geben dagegen
zu bedenken, dass die derzeitige Behandlung von Asylbewerbern einer
Verletzung von Menschenrechten gleichkommt (zum Beispiel Freiheit der
Person, Freizügigkeit, etc.) und der Rechtsschutz keineswegs ausreiche.
Der Anteil aller ausländischen Flüchtlinge und Asylbewerber an der
Gesamtbevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland mache einen geringen
Prozentsatz aus. In Anbetracht der Tatsache, dass die Hauptlast des
Weltflüchtlingsproblems von den Ländern der Dritten Welt getragen werde,
dürfe die Asylgewährung in der Bundesrepublik Deutschland nicht von der
Lage auf dem Arbeitsmarkt abhängig gemacht werden. Eine allzu enge
Definition des Flüchtlingsbegriffes verbiete sich zudem deswegen, weil
etliche diktatorische Regierungen auch die Wirtschaft ihres Landes
ruiniert hätten, so dass die Grenzen zwischen einer Flucht aus
politischen und aus wirtschaftlichen Gründen fließend würden. Am neuen
Asylrecht bemängeln Menschenrechts-organisationen, dass bei einer
Einreise aus einem sicheren Drittstaat eine Einzelfallprüfung nicht mehr
stattfindet und Deutschland seine Verantwortung an die Nachbarstaaten
delegiert. Nicht auszuschließen sei eine Kettenabschiebung, bei der ein
Flüchtling wieder dorthin gelangt, wo ihm Gefahr für Leib und Leben
droht. Insbesondere wird kritisiert, dass deutsche Behörden bei
Abschiebungen von abgelehnten Asylbewerbern und nur zeitweise geduldeten
Ausländern, zum Beispiel Bürgerkriegs-flüchtlingen aus dem ehemaligen
Jugoslawien, oft keine Rücksicht auf die tatsächliche
Menschen-rechtssituation in den jeweiligen Heimatländern nehmen. Die
Menschenwürde verletzte es zudem, wenn unbescholtene Menschen in Haft
genommen werden, um ihre Abschiebung sicherzustellen. Aufsehen erregten
einige Fälle, wo es abgelehnten Asylbewerbern zwar gelang, kirchlichen
Schutz zu erhalten, Behörden aber ein Kirchenasyl nicht anerkannten und
gewaltsam eine Auslieferung erzwangen.
Migration und Asyl Freilich ist die Beschneidung des in Artikel 14 der Allgemeinen
Erklärung der Menschenrechte postulierten Rechts auf Asyl derzeit keine
spezifisch deutsche Erscheinung, sondern wird in zunehmende Masse von
allen wohlhabenden Staaten der Welt praktiziert. Solange Migrantinnen
und Migranten über dringend benötigte Qualifikationen verfügen, durch
ihre Herkunft mit dem Zielland verbunden sind oder dort ihr Vermögen
investieren wollen, stellt die Aufnahme im Allgemeinen kein Problem dar.
Für alle anderen stehen die Chancen schlecht, da die Industrieländer
keinen Bedarf für eine Masseneinwanderung sehen. Insofern werden durch
das Migrationsverhalten des "armen Südens" folgende Fragen an den
"reichen Norden" aufgeworfen:Können die wohlhabenden Länder auf Dauer
den Einwanderungszustrom aus dem Süden verhindern oder begrenzen, ohne
dass der Weltfrieden gestört wird? Lassen sich die "Inseln der Reichen"
mit der universalen Geltung von Menschenwürde und Menschenrechten in
Einklang bringen? Welche politischen, wirtschaftlichen und sozialen
Maßnahmen sind in ärmeren Staaten notwendig, um große Fluchtbewegungen
im Ansatz zu verhindern, und welche Rolle spielt dabei die
Verwirklichung von (kollektiven) Menschen-rechten? Wie kann
Menschenwürde geschützt werden, wenn die Last der Migration auf
wirtschaftlich schwächere Drittstaaten abgewälzt wird,
Bürgerkriegsflüchtlingen die Anerkennung als "politisch Verfolgte" mit
dem Argument verweigert wird, ihrem Schicksal fehle der individuelle
Charakter einer Verfolgung, die internationale Staatengemeinschaft
(noch) nicht in der Lage ist, Menschen in Schutzzonen wirksam zu
verteidigen, wie das Beispiel Bosnien gezeigt hat? Ohne Zweifel ist
diese Problematik so umfangreich und vielschichtig, dass es keine
schnellen und immer eindeutigen Antworten geben kann. Dennoch wäre etwas
mehr Verständnis und Solidarität mit Menschen auf der Flucht, wo immer
sie sich aufhalten, ein wichtiger Schritt zur Verwirklichung der
Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und zu mehr
Frieden.